Beitrag
zur Geschichte der Judengemeinden im ehemaligen hannoverschen Kreis Stolzenau.
1.
Synagogengemeinde Stolzenau mit Leese
2.
Gemeinde der Stadt Rehburg und Bad Rehburg
3.
Ehemaliges Amt Uchte (Kurheßsen) u.Warmsen
4.
Judengemeinde Lavelsloh-Diepenau
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Zur
Geschichte der Juden von Stolzenau/Weser.
Der landflecken Stolzenau in der ehemaligen
Grafschaft Hoya (später Königreich Hannover) gelegen, wurde erst um die Wende
des 20. Jahrhunderts dem modernen Verkehr durch eine Kleinbahn erschloßen. Von den 1650 Einwohnern im Jahre 1900 Waren
102 Juden.
Soweit Aufzeichnungen[1]
vorhanden waren (sie sind in der Hitlerzeit verloren gegangen) waren Juden im
Jahre 1721 ansäßig. Im Besitz des Verfaßers befand sich eine Talmud-ausgabe mit
dem Vermerk: 'IN STOLTENAU 1721'
Fast alle Stolzenauer Juden stammten aus
Hildesheim, aus der alten Judensiedlung Moritzberg, wo sie unter dem Schutz der
Bischöfe seit Jahrhunderten ansäßig waren.
Man darf annehmen, daß ein Ereignis eingetreten ist - vielleicht ein
bischöfliches Edikt - das die Juden veranlaßt hat, in die nähere und weiter
Umgebung abzuwandern. Im übrigen war Moritzberg
für die Stolzenauer Juden auch nur eine Episode: sie waren ursprünglich aus
Süddeutschland gekommen und haben das bis in die Gegenwart durch den Gebrauch
eines'frankfurterischen' Dialekts bekundet, deßen sich unsere Alten mit
Vorliebe bedienten.
Es soll hier erwähnt werden,daß u.W. bis ins 19.
Jahrhundert wenig Beziehungen zu den vielen Judengemeinden im benachbarten
ehemaligen Bistum Minden unterhalten wurden.
Vielleicht hatte das politische Hintergründe: Stolzenau gehörte zur
Grafschaft Hoya; das benachbarte Schlüßelburg zum Königreich Westfalen, später
Preußen. Beide Orte waren bis gegen das
Ende des 17. Jahrhunderts Festungen.
Symbolischerweise lag der EREW auf der Grenze der beiden
"feindlichen" Gebiete, mit dem Resultat daß die Sabathzone mit der
Landesgrenze zusammenfiel.
Im Jahre 1778 waren folgende Familien ansäßig:
Samuel Levi (nachmals "Goldschmidt") und Jechiel Salomon (nachmals
"Hildesheimer"). Beide Namen werden wiederholt urkundlich
erwähnt. Warscheinlich waren auch schon
folgende ansäßig: Block, Blumenfeld ,Elle, Hammerschlag, Lipmann, Löwenstein,
Weinberg. Die Juden aus dem (hannoverischen) Nachbardorf Leese, nämlich
Löwenbach und Strauß, die sich der Gemeide angeschloßen hatten, werden zürst
1834 ewähnt. Nicht erwähnt werden
damals die Familien Wenkheim, Linnemann und Hirschfeld.
Die Juden standen unter dem Schutze des Grafen
von Hoya; späterhin des Kurfürsten und Königs von Hannover. Sie mußten den üblichen Leibzoll entrichten
und konnten Schutzjuden werden. (Es
scheint zwei Arten von Schutzbriefen gegeben zu haben: "Schutzjude"
und "Schutz- und Handelsjude").
Handel durfte betrieben werden; aber mit
Ausnahme des Schlachterhandwerks durften sie kein Handwerk betreiben. Erwerb landwirtschaftlichen Besitzes war
auch verboten. Die meisten
Beschränkungen wurden 1824 aufgehoben.
In der 2. Hälfte des
18. Jahrhunderts stand das Talmudstudium in der kleinen Gemeinde in hoher
Blüte. Jechiel Hildesheimer und Samuel
Levi genoßen einen Ruf als Talmudlehrer, der weit über die Grenzen des
Landstädchens hinausging. Es befanden
sich Aufzeichnungen in alten Talmudim mit Namen von Jeschiwa Schülern aus
Detmold, Minden, Münden, Gehrden, Kaßel.
Eine eintragung sagt: "Jakob Maytner aus Mähren von Tobitschau
gelernt bey Rebbe Samuel Levi".
Eine Generation frommer Juden ist von diesen
beiden Lehrern erzogen worden. Bis zum
gewaltsamen Ende der Gemeinde im Zuge der Hitlerzeit sind die Juden der
religiösen Tradition treu geblieben und haben den Außpruch des ehemaligen
Landrabbiners Meyer aus Hannover wahr gemacht:
"Die Krone meiner Kehillas, das ist die Gemeinde Emden. Aber der Diamant in der Krone ist die
Stolzenauer Kille."
Die Erinnerung an Rebbe Jechiel, den
"Secher Zaddik", ist bis in unsere Tage wach geblieben. Seine Mazewoh auf dem Guten Ort überragt
alle anderen Gräber auf dem alten Teil des Friedhofes. An seinem Grabhügel haben unsere Väter
gebetet, wenn immer sie vor bedeutendenden Entscheidungen standen.
Rebbe Samuel Levi bewohnte das nachmals
Storckmann'sche Haus in der Krummen Straße, in unmittelbarer Nähe des Freiherrn
von Horn'schen Gutshauses. Als dort ein
Feuer ausbrach, das den ganzen Gutshof zu vernichten drohte, wurde "Rebb
Schmul" geholt, der das Feuer, "besprach" und die Flammen zum
erlöschen brachte.
Die Juden haben bis um 1800 ihre jüdischen Namen
geführt. In den Urkunden taucht
erstmalig ein deutscher Name im Jahre 1798 auf: "Levi Samuel genannt
Goldschmidt". Er war der
älteste(?) Sohn des Rebbe Samuel Levi und heiratete die Tochter Röschen des
Chower Rebbe Jechiel (Hildesheimer).
Durch diese Heirat verschwägerten sich die Familien Goldschmidt und
Hildesheimer.
Bis auf die Familien Lipmann und Elle sind alle
Familiennamen willkürlich gewählt worden.
Lipmann war der beibehaltene Vorname (in den Geschäftsbüchern der Firma
Salomon Hildesheimer wird im Jahre 1809 Liepmann Moses erwähnt. Ein anderes mal nur Liebmann). Dieser Name wurde in Lipmann umgewandelt. Elle ist eine Umwandlung von Eli or Elkan.
Um 1800 bewohnten die
Juden folgende Häuser: Hildesheimer Hohe Straße 1, ein Fachwerkhaus aus dem 17.
Jahrhundert. Über der Toreinfahrt war
ein schwerer eichener Balken eingelaßen mit einer hebräischen Inschrift, in der
Art wie man sie bei den Niedersächsischen Bauernhäusern sieht. Außerdem bewohnte die Familie das Eckhaus Am
Markt/Hohe Straße, ein für Stolzenau typisches Wohnhaus mit dem hochgelegenen
Erkerzimmer, der sogenannten Notstube, für den Fall einer Überschwemmung beim
Hochwaßer der Weser.
In der Hohen Straße,
zwischen Kettler und Maler Witte steht das kleine Stammhaus der Familie
Lipmann, das Geburtshaus des Liebmann Moses.
Die Familie Goldschmidt bewohnte das Storckmann'sche Haus, von dem oben
schon die Rede war, bis gegen das Ende des l8. Jahrhunderts. Später die beiden
Häuser Am Markt (Kauffmann und Tamme).
Das Tamme'sche Haus wurde 1855 an Itzig Löwenstein verkauft. Das ist alles was wir über die ersten
Wohnstätten wißen. Es besteht die
Überlieferung, daß ursprünglich alle Juden in der Krummen Straße gewohnt haben,
und zwar in den Häusern, die nachmals bewohnt waren von Jacob Blumenfeld, Salli
Hildesheimer, Karl Löwenstein, Storckmann und Baade. Das sind Grundstücke, die dem Horn'schen Gutshofe benachbart
waren. Grundbesitz in der Langen
Straße, Weserstraße und Im Ort wurde erst nach 1840 erworben.
Über gewerbliche Tätigkeit
vor 1800 können wir uns nur auf Vermutungen beschränken. Wie anderswo, wird mann sich auf den Handel
mit Vieh und landwirtschaftlichen Erzeugnißen beschränkt haben. Nach Aufhebung der Gewerbeschränkungen im
Jahre 1824 vergingen 20 und mehr Jahre, bis der erste Jude einen
Handwerksbetrieb eröffnete. Es war
Markus Levi Goldschmidt, der im Jahre 1849 eine Färberei und Baumwolldrükerei
eröffnete, die "Judenfarbe".
Später eröffnete Eli
Lipmann eine Lohgerberei. Das Schlachterhandwerk
haben die Juden indeßen von je her ausgeübt.
Nach 1830 wurde auch
landwirtschaftlicher Besitz auf dem Ravensberge im Bötler Feld und im Sudfelde
erworben.
Ein eigener Wohlstand bestand
damals nicht, und deshalb auch keine Voraußetzung eine Synagoge zu errichten
und zu unterhalten. Die einzige
Gemeindeinstitution war der Friedhof.
(Es ist zweifelhaft, ob der Friedhof an der Schinna'er Landstraße die
erste Ruhestätte der Stolzenauer Juden war.)
Dann allerdings trat ein
Mann in die Erscheinung, der einen maßgeblichen Einfluß nicht nur auf das
Aufblühen der Gemeinde ausübte, sondern darüber hinaus auf Handel und Wandel
von ganz Stolzenau und seiner Umgebung.
Es handelt sich um Salomon Hildesheimer von dem oben bereits die Rede
war. Salomon, der Sohn des Rebbe
Jechiel H., wurde um 1770 geboren. Sein
genaues Geburtsdatum läßt sich aus den hinterlaßenen Papieren nicht
ermitteln. Seine um viele Jahre jüngere
Schwester Röschen starb 1861 (14. Adar).
Salomon Hildesheimer war
ein Mann von großen kaufmännischen und noch größeren organisatorischen
Fähigkeiten. Aus seinen hinterlaßenen
Geschäftspapieren, die nach mehr als hundert Jahren auf dem Dachboden des
Hauses Am Markt aufgefunden wurden, läßt sich ein ziemlich genaues Bild über
den Umfang und die Art seines Geschäfte rekonstruieren. Salomon hatte um 1800 ein Getreide und
Saatengeschäft gegründet, das in kurzer Zeit einen bedeutenden Umfang erreichte. Er unterhielt Verbindungen zu den
Warenmärkten in Braunschweig, Hannover, Minden, Hamburg und Stettin. Er hatte Agenten mit festen Bezügen an all
diesen Plätzen. Eine enge
Geschäftsbeziehung bestand zu der Bremer Firma Seekamp & Tewes. Ein regelmäßiger Fuhrverkehr wurde nach
Bremen, Braunschweig und Hannover eingerichtet; Getreide wurde auf eigenen
Weserkähnen verschifft und ein Stab von Fuhrleuten und Knechten wurde
beschäftigt. Bereits kurz nach 1800 hatte das Geschäft einen Umfang erreicht,
der weit über den Umfang eines Provinzunternehmens ging. Es wurden gedruckte Marktberichte
versandt. Die Braunschweiger Meße wurde
mit ganzen Wagenzügen beschickt, begleitet von einem Trupp Hildesheimer'scher
Knechte, die mit Degen und Pistolen bewaffnet waren.
Salomon Hildesheimer hat
seit dem Jahre 1809 Napoleonische Heeresteile und die Hannover'sche Armee in
großem Umfange beliefert. Lieferungen bestanden in der Hauptsache in
Brotgetreide, Hafer, Heu und Stroh und Branntwein. Ein Vertrag über die Verpflegung des Tettenborn' schen Husarenregiments
führte zu einem Disput, der 1815 beigelegt wurde.
Ein großer Teil der
Hildesheimer'schen Geschäftskorrespondenz wurde im Jahre 1912 beim Umbau des
Hauses Am Markt aufgefunden. Daneben
auch eine Anzahl Familienbriefe, aus denen verwandschaftliche Beziehungen zu
folgenden Familien hervorgehen: Behrens in Rethem/Aller; Hamm in Seesen;
Warburg in Altona; Kohlberg in Beverungen; Hammerschlag in Stolzenau.
Salomon H. wurde in seinem
Geschäft von seinen Söhnen unterstützt.
Keiner hat allerdings sein Format erreicht. Andere Stolzenauer Juden standen in den Hildesheimer'schen
Diensten, und es steht außer Frage, daß das Haus Am Markt der wirtschaftliche
Mittelpunkt der Gemeinde war. Nach
Salomon hieß die Familie in der ganzen Gegend "Salmens". Das Weserstädchen verdankt seine Blüte (in
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) der Firma Salmens.
Wir wißen wenig über das
Schicksal der Geschwister und Nachkommen des Salomon H. Er hatte 3 Brüder, von denen einer nach
Schlüßelburg, ein anderer nach Heimsen verzog.
Ein dritter blieb in Stolzenau.
Eine seiner Töchter, Frau Hamm, wohnte in Seesen am Harz. Deren Tochter verheiratete sich nach Hamburg. Der Sohn Josef Hildesheimer war warscheinlich der erste Stolzenauer Jude, der
nach Amerika auswanderte und zwar 1847.
Er hat am amerikanischen Bürgerkriege teilgenommen, hat eine Nichtjüdin
geheiratet, die Tochter des Appelationsrates Raben (oder Raven) aus Celle. Der jüngste Sohn Herz Hildesheimer ist
unverheiratet im Jahre 1897 in Stolzenau gestorben. Er hat das vom Vater ererbte Getreide- und Saatengeschäft in
bescheidenem Umfange bis in die 70er Jahre weitergeführt, sich aber später nur
mit der Verwaltung seines Vermögens befaßt.
Salomon hat bei seinem
Tode jedem seiner Söhne ein Barvermögen von 100,000 Thalern hinterlaßen.
Bedingt durch das
Aufblühen der Gemeinde mit dem Aufschwung des Hildesheimer'schen Geschäftes
konnte 1834 eine Synagoge mit anschließender Schule gebaut werden. Die Schul befand sich gegenüber dem Freiherr
von Münchhausen'schen Hause und war der Mittelpunkt der Gemeinde. Sie ist in ihrem ursprünglichen Zustande
über 100 Jahre erhalten geblieben und wurde am 9. November 1938 zerstört. (Nach Angabe des Buchhändlers Kauffmann
wurde die Synagoge von dem Gärtner Hambster in die Luft gesprengt). Die Torarollen wurden auf dem Marktplatz
verbrannt. Der in der Naehe der Schul
wohnende älteste Jude von Stolzenau, Bernhard Weinberg (genannt Boruch) wurde
beim Anblick des brennenden Gotteshauses vom Schlage gerührt und starb auf der
Stelle.
Die Schul, so schmucklos
sie war, hat auf uns immer einen besonderen Zauber ausgeübt; es war ein kleiner
Saal mit gewölbter Decke und je zwei Säulen am Eingang und vor dem Oraun
Hakaudesch. Von der Decke hingen 3 eisene
Kerzenkronen, die mittlere über dem Almemor, zu dem drei Stufen heraufführten;
das Gestühl war aus einfachem Tannenholz. Die Betpulte waren in Brusthöhe
gehalten, und vor jedem Stand befand sich ein Kerzenhalter. Zur Frauenschul auf einer Empore führte eine
Stiege von der Diele. Es war ein feierlicher
Anblick, die Schul am Freitag abend und Jontof im Glanz von hunderten
brennender Kerzen. Aber wir erinnern
uns auch, wie anheimelnd die Schul an den frühen Winterabenden wochentags war,
wenn sie nur von wenigen Kerzen dürftig erhellt war.
Auf der rechten Seite des
Gebäudes lag die Schulstube. Bis 1925
hat sie die offentliche jüdische Volksschule beherbergt. Es wird erwähnt, daß in den Achtziger Jahren
über 80 Kinder am Unterricht teilgenommen haben. Und alle in dem einen Zimmer!
Ein zweites kleines Zimmer
lag im ersten Stock, neben der Frauenschul, und diente ursprünglich dem Lehrer
als Schlaf stube.
Der Friedhof im Schinna'er
Felde war eine Weitere Gemeindeeinrichtung. Es ist nicht feststellbar, wann die
ersten Gräber angelegt wurden, weil alle Grabstätten auf dem alten Teil
versunken sind. Das war schon der Fall
um die Mitte des 19.Jahrhunderts, etwa 1865.
Da indeßen in den letzten 50 Jahren kein absinken von Grabsteinen
beobachtet werden konnte so ist die Vermutung gerechtfertigt, daß der Friedhof
zumindest 100 Jahre, warscheinlich aber an die 200 Jahre bestanden hat, bis die
Grabsteine ganz abgesunken waren.
Danach müßte der Friedhof vor 1700 angelegt sein. (Es ist bereits oben erwähnt, daß vormals
ein anderer Friedhof bestanden haben kann.
Wo, wißen wir nicht).
Ursprünglich bestand keine
Chewra Kadisha am Platze. Sie wurde
1860 gegründet. Lange Jahre war Itzig
Löwenstein Vorsteher der Chewre und Sostmann Lipmann der Rechnungsführer. Die Chewre veranstaltete jedes Jahr ein
Eßen, das Chewreeßen, und außerdem das übliche Lernen am Schwuaus und Haschano
Rabbo. Zuweilen wurde an zwei Stellen
gelernt.
Einen Lehrer und Vorbeter
hat es ursprünglich nicht gegeben.
Jeden falls waren dafür keine Ausgaben vorgesehen. Als erster wird der Lehrer und Vorbeter
Ahrens erwähnt, der bis 1860 amtierte.
Danach war Julius Spanier aus Wunstorf über 30 Jahre in Stolzenau tätig
und die meisten der überlebenden Gemeindemitglieder sind von ihm unterrichtet
worden. Der letzte Lehrer war Gustav
Frühauf, der bei Auflösung der Schule Lehrer in Bliecherode wurde.
Das jüdische
Geimeindeleben war im übrigen den traditionellen, orthodoxen Vorschriften gemäß
ein altjüdisches Killeleben, wie wir es von den Oppenheim'schen Bildern
kennen. Es bestand ein tägliches Minjan
bis zum ersten Weltkriege. An den
Feiertagen war die Synagoge bis auf den letzten Platz gefüllt. Die meisten Familien hatten den Besuch von
Kindern, die im Lauf der Jahre in die Großstadt verzogen waren. Die Aliaus
wurden für die Hohen Feiertage in der Schulstube versteigert wobei es oft zu
grotesken "Kämpfen" kam. Die
Schnodergelder wurden von dem christlichen Polizeidiener Friedrich Menze
eingezogen, der sich mit Stolz "Mischerberchesmann" nannte. Als "Schabbosgoite" und Hausbestallerin
fungierte für über 40 Jahre Karline Friede.
Eine besondere Weihe wurde
dem Schwuaus Fest gegeben, wenn die Schul mit Maiengrün ausgeschmückt war und
die Sefer Tauros grüne Buchsbaumkronen erhielten. Am Sukkaus befarden sich Laubhütten in folgenden Häusern: Selig
Blumenfeld, Lina Goldschmidt, Gustav Goldschmidt, Simon Goldschmidt, Sostmann
Lipmann, Jakob Lipmann, Levi Löwenstein, Karl Löwenstein, Salomon Elle und
Lehrer Spanier.
Es bestand ein friedlicher
Wetbewerb über die schönste Sukka, der regelmäßig von den beiden
Gemeindeoriginalen Tante Line und Zärchen (Lina und Sara Goldschmidt) gewonnen
wurde.
Es müßen hier zwei
"Institutionen" erwähnt werden, die eine gewiße über das lokale
hinausgehende Bedeutung hatten: der Purimball und der Simchas Tauro Ball, zwei
Gelegenheiten, bei denen die Familien aus der engeren und weiteren Umgebung
Gelegenheit hatten, sich kennen zu lernen und "Partien" für
die heranwachsende Jugend zu machen.
Zwei mal im Jahr war der Stolzenauer "Bäll" ein Ereignis, dem
die Juden in der Kille und weiteren Umgegend mit großer Erwartung
entgegensahen. Mit der Eröffnung von
Eisenbahnen nahm die Bedeutung dieser Feste im laufe der Jahre allerdings
zusehends ab.
Mit der christlichen
Umgebung lebten die Juden in gutem Einvernehmen, obzwar man sich in mancher
Beziehung freiwillig absonderte, wie das schon durch das traditionelle
religiöse Leben bedingt wurde. Es
gehörte zum Stadtbild, daß die Juden am Schabbos vor ihren Häusern saßen, in
Gruppen auf Bänken und Stühlen. An den
Sederabenden wurde unbekümmert darauf los gesungen. Es gehörte zum Peßach, daß
an christliche Freunde Mazzes verteilt wurde.
Besonderer Beliebtheit erfreuten sich die Juden aber bei den Bauern in
den umliegenden Dörfern, deren Umgangssprache "Platt" von den meisten
Juden gesprochen wurde.
Zu Anfang der 90er Jahre
kam es zu einer ersten (?) judenfeindlichen Kundgebung in Zuge der Alldeutschen
Bewegung. Zwei konkurrenzneidische
christliche Kaufleute, Rosendorf und Witte, veranstalteten eine antisemitische
Versammlung, bei der der Wanderredner Leuss sprach. Indeßen war keiner der Stolzenauer Saalbesitzer bereit, sein
Lokal zur Verfügung zu stellen.
Schließlich errichtet man im benachbarten Holzhausen ein Zelt, und darin
mußte die Versammlung stattfinden. Die
Sache war ein Mißerfolg, zumal Sostmann Lipmann einen Gegenredner hatte kommen
laßen. Die Stolzenauer Juden haben den
beiden Hetzern Rosendorf und Witte das alles nicht vergeßen, und das Schicksal
dieser damals wohlhabenden Kaufleute war, wie die Zukunft gelehrt hat, genau so
wie das Ende anderer Judenhetzer.
Im 19. Jahrhundert trat
eine Bevölkerungsvermehrung in der Gemeinde ein; die Personenzahl war 82 im
Jahre 1844, sie stieg auf genau 100 im Jahre 1904, also innerhalb von 60
Jahren, zu einer Zeit als die jüdische Landbevölkerung anderswo schon stark
abnahm.
Zuzug hat die Gemeinde im
19. Jahrhundert kaum gehabt. Die
Familie Wenkheim ist warscheinlich um 1825 seßhaft geworden, und durch sie
späterhin deren Verwandter Walter Hirschfeld, der aus Salzgitter stammte. Der Pferdehändler Eli Wenkheim, ein
Junggeselle, starb als letzter der Familie nach 1900. Die Pferdestallungen auf der Hohen Straße waren im Winter der regelmäßige
Treffpunkt der jüdischen Schuljungen an Schabbos Nachmittag. Und von dort begab man sich anschließend zur
Synagoge. Die beiden Brüder des Eli W.
wanderten aus, Simon nach London, und der jüngste Bruder nach Neuseeland. Simon war Schneider und er brachte es in
England zu Wohlstand. Seine Kinder
blieben der Heimat treu, bauten in Stolzenau ein Haus (Winter, Allee) und
verbrachten einen Teil des Jahres dort.
Der Sohn des Simon W., Eliard, war der Pächter der Stolzenauer Jagd und
des Wellier Kolkes. Jagdaufseher
Dietrich Graue stand in seinen Diensten und erhielt bis zu seinem Tod nach dem
1. Weltkrieg eine Pension. Eliard, ein
wilder Mensch und toller Reiter, ertrank bei einem Versuch, durch die Weser zu
reiten.
Im Jahre 1848 kam es in
dem friedlichen Weserflecken zu einer "Revolution", an der sich Itzig
Löwenstein beteiligt haben soll.
Am deutsch-französischen
Kriege 1870/71 haben keine Stolzenauer Juden teilgenommen. Am 1. Weltkriege haben folgende
teilgenommen: Selig und Emil Blumenfeld; die 4 Brüder Emil, Fritz, Willhelm und
Otto Hirschfeld; Martin Hildesheimer; David und Adolf Kleinberger; Gustav und
Martin Lipmann; Emil Lipmann; Adolf Löwenstein; die drei Brüder Karl, Julius
und Moritz Löwenstein; Arnold Löwenstein; Lehrer Gustav Frühauf. Gefallen sind Martin Hildesheimer, Otto
Hirschfeld und Martin Lipmann.
Die Blütezeit der Gemeinde
war bereits vor dem 1. Weltkrieg vorbei.
Sie war nach 1910 stark zusammengeschmolzen durch Abwanderung in die
Großstadt. Im Jahre 1924 bestand die
Gemeinde nur noch aus 52 Personen;
1940 waren es noch 13; sie wurden alle von den Nazis vernichtet. Einige Tage vor der Deportierung wurden sie
beordert, sich im Hause von Selig Blumefeld, dem letzten Vorsteher der
Gemeinde, zu versammeln. Dort waren sie
noch einige Tage bis eines morgens ein Lastwagen aus Nienburg ankam, die Juden
auflud, und über die Weserbrücke verschwand…
Wir haben nichts weiteres
erfahren können über das Schicksal der Letzten der Stolzenauer Juden.
Anhang
Personenverzeichnis von Mitgliedern der
Synagogengemeinde Stolzenau
1904/05
1. Markus Hildesheimer u. Frau Fanni geb. Levi (Segeberg)
Martin
und Erwin Hildesheimer
2. Salli Hildesheimer u. Frau
Thea
u. Max Hildesheimer
3. Fanni Goldschmidt geb. Nachmann (Bassum)
Gustav,
Jenni, Ida, Ella und Berta Goldschmidt
4. Leo Goldschmidt u. Frau Dina geb. Levy (Hohenbostel)
Kurt,
Grete u. Max Goldschmidt
5. Salomon Löwenstein u. Frau Marianne geb. Levi (Stadt
Rehburg)
Adolf
Löwenstein
6. Adolf Hirschfeld u. Frau Adele geb. Hamm (Seesen)
Georg,
Hedwig, Emil, Emmi Fritz, Wilhelm, u. Otto Hirschfeld
7. Sortine Lipmann geb. Paradies
Berta,
Ernst u. Johanne Lipmann
8. Berta Löwenstein geb. Mosheim (Eldachsen)
Arnold,
Johanne u. Golda Löwenstein
9. Leo Löwenbach u. Frau Else geb. Goldschmidt (Freden/Leine)
Ernst
Löwenbach
10. Albert Löwenbach
Salli
Löwenbach
11. Salomon Elle
u.
Nichte
Josef
Kleinberger u. Frau
Berta,
David, u. Adolf Kleinberger
12. Markus Goldschmidt u. Frau Fanni geb. Goldschmidt (Kirchweyhe)
13. Simon Goldschmidt u. Frau Frieda geb. Liepmann (Bücken)
Anna
u. Fritz Goldschmidt
14. Jacob Lipmann
Therese
Tannenbaum;
15. Frl. Dessauer
16. Frau Sophie Lipmann geb. Jacobsohn (Barenburg)
Gustav
Lipmann
17. Frau Röschen Blumenfeld geb. Löwenstein (Stolzenau)
Selig
und Sophie Blumenfeld; Frl. Röschen Löwenstein (?)
18. Sostmann Lipmann u. Frau Emma geb. Meyer
Else
Lipmann
19. Levi Löwenstein u. Frau Frieda geb. Mendelsohn (Hemelingen)
20. Frau Klara Löwenstein geb. Esberg
Karl
u. Else Löwenstein; Joseph Löwenstein
21. Jacob Blumenfeld u. Frau geb. Kassler
Lene,
Emil, Emilie Blumenfeld
22. Bernhard Weinberg u. Frau Mathilde geb. Lieblich (Bür/Hann)
Martha
Weinberg
23. Frl. Lina Goldschmidt
Sara
Goldschmidt
24. Amalie Linz
Betty
Linz
25. Julius Spanier (Lehrer) u. Frau Grete geb. Hahn
(Schlüsselburg)
Hans Spanier
Anmerkung: nur die gegen ein Nummer geführten Personen sind zur
Synagogensteuer herangezogen.
[1]
Protokollbuch der Judengemeinde Stolzenau,
zuletzt im Besitz des letzten Gemeindevorstehers Selig Blumenfeld (deportiert);
Aufzeichnungen der Chewra
Kadischa-Stolzenau 1860 bis 1918
Manuskript von ca. 150 Druckseiten des Rebbe
Jechiel Hlildesheirner; vom Jahre 1790(?). Übergeben an Oberrabbiner Dr. Joseph
Carlebach-Hamburg bei meiner Auswanderung im Jahre 1938.
Umfangreiche Korrespondenzenl der Firma
Salomon Hildesheimer.
Geschichte
der Grafschaften Hoya und Diepholz, H.Gade, Nienburg, 1892